Der PROLOG aus der gekürzten Fassung hat in der vollständigen Fassung keine Funktion mehr. Damit er nicht ganz verloren geht, steht er hier noch einmal bis zu der Stelle, an der er in den Text der neuen Ausgabe des Romans übergeht:
Prolog
Wir nennen sie Henriette, Rike, Jette oder Henny. Alle diese Namen haben in ihr ihren Platz, sie sind Teile von uns oder Teile all der Frauen, die wir kennengelernt haben. Henny ist uns die Liebste, weil sie mutig ist und sich, wenn auch spät im Leben, noch aufmacht, die Person zu werden, die sie immer sein wollte. Wir statten sie mit Intelligenz, Herzenswärme und einem verborgenen Talent aus.
Trotz dieser guten Gaben verbringt sie leider den größten Teil ihres Lebens als Rike, als Achims Frau. Sie duckt sich in ihr Schicksal, als sei der Umstand, dass der reichste Bauer in Bugendorf sie geheiratet hat, schon das Äußerste, das sie vom Leben zu erwarten hätte. Aber Achim ist nicht das Problem, wenn man davon absieht, dass die bescheidene Liebe zwischen ihnen den ersten gemeinsamen Frühling auf dem Bosselhof nicht überdauert, das Problem ist Mine. Sie ist es, die dafür sorgt, dass auch nach fünfzig Jahren niemand in Bugendorf vergisst, dass Rike für ihren einzigen Sohn die Falsche ist, eine Unwürdige, die nicht, wie es sich gehört, den Grundbesitz mehrt und die nicht einmal dazu taugt, gesunde Kinder in die Welt zu setzen. Es ist Rikes Schuld, wenn die Familie Bosselmeyer ausstirbt, denn Heiner, das Sorgenkind nach vier Totgeburten, ist zeugungsunfähig.
Wir schreiben Rike zum Ausgleich für den kalten Achim, die vor Hass glühende Mine und die verlorenen Kinder eine sechzehn Jahre lang geheim gehaltene Liebe in die Lebensgeschichte. Bernhard, der Architekt aus Schönkirchen, nennt sie Jette. Solange er donnerstags seine Hände auf ihre Brüste legt, ist ihr Leben trotz allem im Lot. Diese Liebe ist notwendig, damit Henriette schon in jungen Jahren erlebt, wie es sich anfühlt, mit sich und der Welt übereinzustimmen. Denn sonst würde sie vielleicht im Alter resignieren, die Zukunft abtreten an die Jungen, die angeblich noch alles vor sich haben.
Nach Bernhards überraschendem Tod lassen wir sie noch achtzehn Jahre in ihrem elenden Einerlei sitzen, weil abgewiesene Wünsche sich nur langsam ins Leben zurückkämpfen. Aber dann ist es so weit:
Als Achim endlich die letzten Kühe abgeschafft hat und nur noch etwas Biogemüse anbauen will, eigentlich ein Rentner wie sie, den seine Arthritis plagt, an ihrem siebzigsten Geburtstag, dem 30. Januar 2000, einem Sonntag, nachdem alle Gratulanten den Hof verlassen haben, wünscht Henriette sich etwas Unerhörtes: eine Reise nach Amerika. Allein.
Wir schicken sie gegen den Widerstand von Mine, Achim und Heiner auf die Reise. Von Bugendorf, diesem verschlafenen Nest in Schleswig-Holstein, geradewegs in den Wilden Westen Amerikas. Drei Monate ist sie unterwegs, drei Monate ohne eine Nachricht aus Bugendorf. Sie lernt das schwarze Arztehepaar Louisa und Earl kennen, die sie bemuttern, als sie krank ist, und den vierundneunzigjährigen Griffith, der sich im Labyrinth der Lebenskunst auskennt und ihr das tychische Glück schenkt.
Sie streift Rike ab wie eine schon lange zu eng gewordene Haut und wird Henny.
Im Land der unbeschränkten Möglichkeiten entdeckt Henny, dass sie Bilder malen kann wie andere ernstzunehmende Maler auch, und sie erlebt, dass es einen Bewusstseinszustand gibt, in dem die Zeit nicht wie gewöhnlich in die Länge, sondern in die Breite fließt. Danach kann sie nicht mehr so weiterleben wie bisher.
Die Rückfahrt nach Bugendorf ist wie die Rückkehr in das Gefängnis nach einem Freigang, dorthin, wo die Wärter Mine und Achim nur darauf warten, ihr Henny wieder auszutreiben.
Henriette sitzt im Zug nach Kiel und ängstigt sich.
Sie tut uns leid. Sie hat etwas Besseres verdient. Wir trauen ihr jetzt, auch noch mit siebzig, ein neues, ein anderes Leben zu. Deshalb verbünden wir uns mit Tyche, der griechischen Glücksgöttin, deren Glück nur demjenigen in den Schoß fällt, der in der Tiefe seiner Seele dafür bereit ist. Wir erfinden einen Schicksalsschlag. Henny, vom langen Flug erschöpft, ist auf dem Weg. Tyche erwartet sie.